Schulhunde erobern die Klassenzimmer im Landkreis
so erschienen im Stader Tageblatt am 29.10.15

Immer mehr Schulen in der Region setzen auf tierische Unterstützung. Die drei Schulhunde Ida, Joshi und Chico aus dem Landkreis Stade sind der lebende Beweis für die Vorteile der tiergestützten Pädagogik.
Freitagvormittag, Viertel nach elf. Für die Zehntklässler der Johann-Hinrich-Pratje Oberschule in Horneburg steht eine Doppelstunde Deutschunterricht auf dem Stundenplan. Während sie und Lehrerin Annika Fuhrmann gemeinsam Pro- und Kontra-Argumente zum Thema „Share Economy“ an der Tafel sammeln, dreht Schulhündin Ida eine Runde durch den Klassenraum, bevor sie es sich auf dem Boden bequem macht. Zwar hat die Golden-Retriever Hündin auch eine weiche Box als Rückzugsmöglichkeit, sie liegt aber lieber neben dem Pult. Schließlich kann sie von hier aus genau beobachten, wie die Finger der Schüler nach oben gehen und ihr Frauchen mit einem Stück Kreide in der Hand gestikuliert.
Die Golden-Retriever Hündin ist fünf Monate alt und wächst allmählich in ihre Aufgaben als Schulhund herein. Schon jetzt ist für die Schüler automatisch Ruhe und Konzentration angesagt, wenn Ida auf leisen, noch etwas zu groß wirkenden Pfoten durch das Klassenzimmer tapst oder sich zum Dösen hinlegt. „Ida schafft allein durch ihre Anwesenheit eine angenehme Lernatmosphäre“, schwärmt Annika Fuhrmann. Dies soll später vor allem in unruhigeren Klassen ausgenutzt werden.
Auch am Athenaeum in Stade gibt es tierisch guten Unterricht. Lehrerin Beatrix Elss beschreibt die 6l als „besondere Klasse“. Bei einem Verhältnis von 21 Jungen und nur fünf Mädchen gehe es in der 6l häufiger unruhig zu. Außerdem ist unter den Schülern ein Junge mit Asperger-Syndrom. Eine deutliche Verbesserung des Unterrichtsklimas brachte Schulhund Joshi in das Klassenzimmer. Der 9-jährige Groenendael-Rüde gehört zu den belgischen Schäferhunden. Auf dem Schulhof kreist er die Schülergruppen ein – eben typisch Hütehund. Auch im Unterricht hält Joshi seine Schäfchen beisammen: Egal ob Junge, Mädchen, Einzelgänger oder Raufbold, der Hund geht auf jedes Kind zu und fordert seine Streicheleinheit ein.

„Er ist da ganz hartnäckig“, sagt Beatrix Elss und lacht. Gerade dieser Vehemenz ihres Hundes schreibt sie einen großen Anteil an den Fortschritten des Asperger-Kindes zu. Aufgrund seiner Entwicklungsstörung zeigt der Schüler kaum Interesse an seinen Mitmenschen. Auch den Schulhund habe der Junge lange Zeit ignoriert, erzählt die Lehrerin. „Irgendwann begann er, Joshi zu streicheln und ihm Kommandos zu geben“, sagt Beatrix Elss. Die Interaktion mit dem Hund deutet sie als Schlüsselmoment. Danach habe der Junge, der sonst die Pausen allein im Klassenraum verbracht hat, begonnen sich allmählich aus seiner Isolation, dem „sozialen Kokon“, zu lösen. Mittlerweile spielt und tobt der Schüler in den Pausen mit den anderen Kindern über den Schulhof.
Verschiedene Studien belegen die Vorteile der tiergestützten Pädagogik. So ergaben die Forschungen des Psychologen Prof. Dr. Erhard Olbrich und der Verhaltensforscherin Dr. Carola Otterstedt, dass sich allein durch die Anwesenheit eines Hundes hyperaktive und reizbare Kinder deutlich beruhigen. „Das Schönste ist, dass die Schüler selbst die Verbesserungen durch Joshi wahrnehmen“, sagt Beatrix Elss und legt einige Seiten aus einer anonymen Befragung vor, die sie im vergangenen Jahr in der Klasse durchgeführt hat. „Es ist im Unterricht viel leiser“, „Joshi hat mir gezeigt, dass ich vor Hunden keine Angst haben muss“ und „Er beruhigt und man kann sich viel besser konzentrieren“ steht da in Kinderschrift. Beim Blick von außen auf eine Deutschstunde ist die 6l weder besonders unruhig, noch ist erkennbar, welcher der Schüler mit Asperger ist.
Es ist kein Widerspruch, dass der Hund die Aufmerksamkeit der Kinder einfordert und die Schüler trotzdem konzentriert am Unterricht teilnehmen. In der Deutschstunde lässt Joshi es nicht zu, dass die Kinder gedanklich abschweifen. Durch die Anwesenheit des Hundes bleibt die Aufmerksamkeit innerhalb des Klassenzimmers. Nicht selten kommt es vor, dass ein Schüler etwas sagt und gleichzeitig den Schulhund krault.
Vermutlich Joshis größter Fan ist der Schulleiter Wolfgang Horn. „Er kam vor zwei Jahren mit der Idee zu mir, einen Schulhund am Athenaeum einzuführen“, sagt Lehrerin Beatrix Elss, die auch erste Vorsitzende des Tierschutzvereins Stade und langjährige Hundehalterin ist. Da das Projekt Schulhund am Athe so erfolgreich ist, hat Joshi seit diesem Schuljahr einen tierischen Kollegen. Anke Wehber aus Himmelpforten und ihr Groenendael-Mix Chico begleiten je nach Bedarf verschiedene Unterrichtsstunden. In einer Pause wurde das Gespann zu einem aggressiven Kind gerufen. „Ich konnte dabei zusehen, wie sich der Junge allmählich beruhigte“, berichtet Anke Wehber. „Zuerst streichelte er Chico noch mit geballter Faust, dann löste sich die Anspannung“. Auch im Biologieunterricht kam Chico schon als lebendes Objekt zum Einsatz, an dem die Schüler Anatomie und Verhalten des Hundes beobachten konnten. In Horneburg hat Annika Fuhrmann eine „Schulhund AG“ eingerichtet, in der die Schüler den verantwortungsvollen Umgang mit dem Vierbeiner lernen sollen.
Ida, Joshi und Chico sind bei Weitem nicht die einzigen Schulhunde in Niedersachsen. Schulen aus Tostedt, Bremervörde und Cadenberge hätten sich bereits bei Wolfgang Horn über die Einführung eines Schulhundes informiert, so Beatrix Elss. Konkrete Zahlen liegen der Landesschulbehörde allerdings nicht vor, weil es in Niedersachsen keine geltende Rechtslage für die Schulhunde gibt. Im Prinzip könne jeder Lehrer, sofern die Schulleitung einverstanden ist, seinen Hund mit in den Unterricht nehmen, erklärt Annika Fuhrmann. „Es gibt aber Empfehlungen, die ich beachte“, sagt die Lehrerin. Ida ist geimpft, entwurmt und haftpflichtversichert. Das Einverständnis von Eltern und Kollegium liegt vor. Von allergischen Kindern wird Ida ferngehalten, außerdem darf sie weder die Mensa noch die Sporthalle betreten. Bevor Ida in die Schule geht, ist sie körperlich ausgelastet, außerdem bleibt sie bisher nicht länger als eine Doppelstunde. „Das Wichtigste ist, dass es dem Hund gut geht“, sagen beide Lehrerinnen unabhängig voneinander.
Mit einem Videobeitrag hat sich die 6l Anfang des Monats beim Kinderkanal als „Beste Klasse Deutschlands 2016“ beworben. In dem Film dürfen natürlich auch die beiden Schulhunde Joshi und Chico nicht fehlen – die 6l ist eben eine ganz besondere Klasse.
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Und noch ein Hinweis in eigener Sache:
Joshi und Chico sind zwei ganz besondere Hunde, die dank unseres Vereins erst das werden konnten, was sie heute sind.
Wir sind sehr stolz auf die beiden!